Interview der DMSG-Berlin mit Dr. Gregor Gysi
Herr Dr. Gysi, nun sind Sie Schirmherr der DMSG-Berlin. Wie fühlt sich das an?
Gut. Ich würde mich freuen, wenn es gelänge, für die tolle Arbeit der vielen engagierten Mitglieder der DMSG-Berlin noch mehr Aufmerksamkeit zu erreichen.
Können Sie uns einen kleinen Einblick geben, wie sich das bei Ihnen persönlich abgespielt hat, dieses Amt zu übernehmen? Wie lief das genau?
Ich bekomme nicht wenige Anfragen mit ähnlichen Anliegen. Es ist angesichts dessen, dass der Tag nur 24 Stunden hat, nicht immer leicht zu entscheiden, welche Aufgaben ich übernehmen kann. Man muss sich ja dann auch die Zeit nehmen, um etwas bewirken zu können. Bei der Anfrage der DMSG-Berlin musste ich aber nicht lange überlegen. Dann habe ich mich mit dem Vorstand getroffen und sehr schnell für mich entschieden, dass ich die Schirmherrschaft übernehme.
Was ist in Ihre Überlegung eingeflossen und was gab den Ausschlag für Ihre Zusage?
Ich habe mich nach der Anfrage intensiver mit der Krankheit beschäftigt, die jede und jeden treffen kann und bisher nicht heilbar ist. Das hat mich an etwas erinnert, das in unserer auf Leistung getrimmten Gesellschaft nicht gern gehört wird: nicht jeder kann seines eigenen Glückes Schmied sein. Wenn sie oder er vom Glück verlassen werden, brauchen wir die menschliche Solidarität und müssen uns darauf verlassen können. Das macht doch eigentlich erst eine lebenswerte Gesellschaft aus. Dazu ein klein wenig beitragen zu können, hat mich bewogen, die Schirmherrschaft zu übernehmen.
Wann und wie sind Sie zum ersten Mal mit MS in Berührung gekommen?
Glücklicherweise muss sich in meiner Familie niemand den Herausforderungen stellen, die diese Krankheit mit sich bringt. Deshalb war mein Wissen doch eher abstrakt. Zumal viele Betroffene darüber auch nicht gern sprechen. Doch nun, nachdem ich die Schirmherrschaft angetreten habe, melden sich einige aus meinem Bekannten- und Mitarbeiterkreis, in deren Familien Menschen MS haben. Da wird es dann schnell konkret, wenn es um Pflege oder auch nur die Fahrt zur Familienfeier geht.
In Ihrer Antrittsrede haben Sie an die Solidarität appelliert. Die Pflege und Betreuung käme zu kurz in unserer Gesellschaft. Was soll und kann die Politik leisten?
Die Politik steht in der Verantwortung dafür, dass Solidarität nicht für unnötig oder gar überflüssig gehalten wird. Sie muss ein Grundwert in unserer Gesellschaft bleiben oder wieder werden, damit der Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht nur auf dem Papier steht, sondern für alle gilt und von allen gelebt werden kann: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es geht um viel zu geringe Löhne in der Pflege, und wir brauchen deutlich mehr Stellen und die Beschäftigten auch mehr Zeit zur Kommunikation mit den Betroffenen.
Wir führen gerade eine Generaldebatte über Gerechtigkeit. Die SPD möchte den Umbau des Sozialstaates: Grundrente, Grundeinkommen, Mindestlohn, Pflegenotstand etc. Das müsste doch ganz in Ihrem Sinne sein?
Es sind zumindest Schritte in die richtige Richtung, auch wenn es bis jetzt nur Absichtserklärungen sind und schon deutlich wird, dass die Große Koalition nicht geeignet ist, dies auch durchzusetzen, sondern es Mehrheiten links der Mitte dazu braucht.
Was würden Sie gesellschaftspolitisch sofort ändern, wenn Sie die Möglichkeit hätten?
Ich würde dafür sorgen, dass die vielen Milliarden Euro Steuergeld, die jetzt zusätzlich in die Rüstung fließen sollen, für sinnvollere Aufgaben, zum Beispiel die Pflege ausgegeben werden. Damit würde etwas für die soziale Gerechtigkeit und für den Frieden getan.
Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Was haben wir geschafft, was nicht?
Es gab ohne Zweifel einen Zugewinn an Freiheit, Demokratie und Grundrechten, die
Infrastruktur wurde weithin in Ordnung gebracht, wir bekamen eine Währung, mit der man überall zahlungsfähig ist, wenn man genug davon hat. Dass genau dies für viel zu viele nicht gilt, ist schon eine Kehrseite der Medaille. Wir erlebten im Osten eine beispiellose Massenarbeitslosigkeit, die sich bei der Generation, die jetzt in Rente geht, in Armutsrenten niederschlägt. Nicht geschafft ist die Angleichung der Löhne und Renten in Ost und West. Und leider wurde den Menschen im vereinigten Land nicht gegönnt, die eine oder andere Lösung, die im Osten besser war wie etwa die Polikliniken oder die flächendeckende Kinderbetreuung, als persönlichen Gewinn der staatlichen Einigung zu erleben.
Gibt es ein Erlebnis oder eine Persönlichkeit das/die Sie am meisten beeindruckt hat?
Ich hatte viele Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten. Hervorheben möchte ich das Treffen mit Nelson Mandela, der sich trotz all der Entbehrungen, denen er ausgesetzt war, eine bemerkenswerte Großherzigkeit bewahrt hatte.
Im Januar sind Sie 71 Jahre alt geworden. Sie sind immer noch sehr rege und agil, besonders in der Politik. Dabei sagten Sie zu Ihrem 70ten, Sie seien wild entschlossen das Alter zu genießen. Wie sieht Ihr Genießen genau aus?
Ich gebe zu, danach suche ich noch. Im Moment ist mein Kalender fast voller als früher.
Was ist wichtig im Leben?
Familie, Freunde, gutes Essen und vor allem, sich dafür Zeit zu nehmen.
Gibt es eine Sache, die Sie bereuen bzw. rückblickend unbedingt anders machen würden? Bereuen Sie Dinge?
Ich habe mir zu lange für die wichtigen Dinge im Leben zu wenig Zeit genommen und damit auch Menschen vor den Kopf gestoßen. Man darf sich selbst nie zu wichtig nehmen.
Sie lesen gerne und sind dem Jazz „verfallen“. Wann haben Sie dafür Zeit?
Leider eben viel zu wenig. Das muss ich mir jetzt wirklich organisieren. Aber mein musikalischer Geschmack ist nicht auf den Jazz begrenzt. Ich höre auch gern Oper, Klassik oder aktuellen Pop und Rock.
Was bringt Sie wirklich zum Lachen?
Am besten lacht man über sich selbst, das sollte man nie verlernen.
Worüber haben Sie sich zuletzt richtig geärgert?
Zum Glück lasse ich nicht mehr jedes Problem so nah an mich heran. Wenn früher, als ich Fraktionsvorsitzender war, die Leute mit zehn Problemen zu mir kamen, habe ich sie noch auf zwei weitere hingewiesen, die sie vergessen hatten. Heute kann ich vieles doch gelassener sehen. Ich ärgere mich aber regelmäßig, wenn ich sehe, wie ignorant sich die Bundesregierung gegenüber der zunehmenden sozialen Spaltung verhält. Rentner, die nach Leergut suchen müssen, und Kinder, die nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen könne, weil die Eltern das Geld nicht haben, das ist ein Skandal.
Was ist für Sie Berlin heute?
Eine Metropole, die viele Menschen aus aller Welt anzieht, und sich dennoch das Leben in den Kiezen bewahrt. Letzteres setzt voraus, dass die Mieten bezahlbar werden. Daran arbeitet der Senat unter Beteiligung meiner Partei intensiv.
Treten Sie zur nächsten Bundestagswahl noch einmal an?
Wir haben ja noch nicht mal die Hälfte der Legislaturperiode rum. Nun warten wir erstmal, wie lange die Große Koalition noch hält.
Wie wäre Ihr persönliches Wahl-Wunsch-Ergebnis?
Eine starke Linke, die zu einer Mitte-Links-Mehrheit beiträgt, damit das Land friedlicher und sozial gerechter wird.
Ab wann hören Sie nur noch Jazz und lesen?
Schau‘n wir mal, wahrscheinlich wird das noch ein ganzes Weilchen dauern, weil nach wie vor viele Anfragen kommen. So lange ich gesund bleibe, werde ich sicher nicht nur auf der Terrasse sitzen und Musik hören oder lesen.
Das Interview fand im Februar 2019 statt. Die Fragen stellte Joachim Radünz.